Verschwunden

Verschwunden in Deutschland

Lebensgeschichten von KZ-Opfern. Auf Spurensuche durch Europa

Imke Müller-Hellmann

 

Sachbuch

180 Seiten

Gebunden

€ 19,99 

Erschienen September 2014

ISBN: 9783955100605
Auch als eBook erhältlich
Vergriffen
 

 

Engerhafe, ein Flecken in Ostfriesland, 1944: Das Konzentrationslager der Nationalsozialisten liegt mitten im Dorf, ein abgelegenes Außenlager des KZ Neuengamme, errichtet für 62 Tage zum Bau des Friesenwalls. 2000 Gefangene, ausgesetzt der Kälte, dem Hunger und dem Prügeln der Wächter. 68 Polen, 47 Niederländer, 21 Letten, 17 Franzosen, 9 Russen, 8 Litauer, 5 Deutsche, 4 Esten, 3 Belgier, 2 Italiener, 1 Slowene, 1 Spanier, 1 Tscheche und 1 Däne sterben.

Engerhafe heute: Ein Stein auf dem Friedhof erinnert an die 188 Ermordeten. »Wer ist hier begraben?«, fragt Imke Müller-Hellmann ihre Großmutter, die 1944 27 Jahre alt war und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Lager lebte. »Die Großmutter schwieg und konnte sich den Namen nicht zuwenden«, sagt Müller-Hellmann, »aber ich kann es. «Elf Familien der KZ-Opfer macht sie ausfindig. Sie reist zu ihnen nach Frankreich, Polen, in die Niederlande, nach Dänemark, Spanien, Lettland und Slowenien. Dort hört sie von Widerstandsgruppen und Partisanen, vom Spanischen Bürgerkrieg und vom Warschauer Aufstand, vom Schweigen in den Familien und dem Leid der Hinterbliebenen. Sie schreibt das Gehörte auf und gibt den Toten damit ihre Geschichten zurück.

 


Die Autorin über "Verschwunden in Deutschland":

Imke Müller-Hellmann, wann kam Ihnen die Idee für dieses Buch?

Dass es ein Buch werden könnte, kam mir sehr spät in den Sinn. Ich bin in die erste Begegnung „hineingestolpert“ und habe mich sehr vorsichtig an die Recherche nach weiteren Nachfahren gewagt, nicht wissend, was das werden wird, ob ich das „darf“ und ob ich dabei Gefühle lostrete, die für die Beteiligten zu belastend sein könnten. Das war der Grund, dass ich kein offiziell deklariertes „Projekt“ daraus machen wollte und so auch nirgendwo Gelder für die Fahrt-, Dolmetsch- und Übersetzungskosten beantragt habe. Ich wollte frei darin sei, sofort aufhören zu können, falls ich gemerkt hätte: Das tut denen, die ich besuche, nicht gut. Erst nach einer Anzahl von Reisen und Geschichten entstand langsam die Idee für ein Buch.

 

Warum und für wen haben Sie es geschrieben?

Als Autorin setze ich mich mit Erlebtem und mit Themen, die mich umtreiben, schreibend auseinander. Ich habe die letzten Jahre 30 Kurzgeschichten verfasst und so war es für mich selbstverständlich, die ersten Begegnungen in einer kürzeren Prosaform festzuhalten. Dann kam uns, dem Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe, in den Sinn, dass die Lebensgeschichten Teil der Gedenkausstellung werden könnten. Ich habe sie somit als Selbstausdruck und als Teil der Ausstellung geschrieben, die ein Gedenken ermöglichen soll. In welchem Maße das Gedenken für die Nachfahren der Toten oder aber für uns nachfolgende Generationen des deutschen Faschismus’ ist, kann ich nicht beantworten. Von daher kann ich nicht sagen: Ich habe es für die Nachfahren geschrieben. Es freut mich sehr, dass das Projekt nun in einer Veröffentlichung mündet. Aber auch wenn es kein Buch geworden wäre: Das Wesentliche ist bereits in den Begegnungen passiert. Ich muss abschließend auch meine Großmutter erwähnen. Mich auf die Suche nach den Nachfahren der Toten zu machen, war auch ein mich Zuwenden zu meiner Großmutters – im Hinblick auf den Nationalsozialismus – ambivalenten Biographie. Es war das Aufnehmen eines Themas, dem sie sich nie gestellt hat, und darin war meine Arbeit auch – paradoxerweise – nach ihrem Tod so etwas wie nachgetragene Liebe.

 

Wie und wo haben Sie mit der Recherche begonnen?

Ich habe zufällig ein Gedicht vor dem Gedenkstein mit den Namen in Engerhafe gefunden und die Verfasserin, die unter den Zeilen stand, im Netz gesucht. Daraus entstand der erste Kontakt mit der Niederländerin Marleen van der Weij. Der zweite Kontakt war mit der französischen Ordensschwester Mónica Coste. Sie hatte sich mit einem Brief an die Gemeinde gewandt und um Informationen zum Lager gebeten. Danach begann ich, gezielt zu recherchieren. Telefonbücher, Internet, Institutionen vor Ort usw., ich schrieb Menschen in ganz Europa und Israel an und wartete auf etwaige Rückmeldungen.

 

Gab es besondere Momente und Erlebnisse während der Recherche?

Ja, viele. Besonders fand ich die Anzahl der freundlichen, aufmunternden Rückmeldungen von den Menschen, die ich irrtümlich anschrieb. Herausragend waren natürlich die Momente, in denen ich die sprichwörtliche Nadel aus dem Heuhaufen ziehen konnte und der Kontakt gelang. Und verrückt war, dass ich mich wochenlang um einen Kontakt nach Spanien bemüht hatte und mir ein Nachfahre eben dieses Spaniers unabhängig von meiner Suche eine Mail aus Berlin schrieb. Er hatte mich auf der Website des Vereins gesehen. Dies war eine zeitliche Überschneidung, die ich erst gar nicht glauben wollte. Das waren besondere Momente der Recherche, aber aufregend waren erst recht die Momente in den Begegnungen auf den Reisen.

 

Was war die emotionalste Begegnung?

Mit der Ordensschwester Mónica Coste. Weil sie bis heute unter dem Verlust des Vaters leidet, auch weil sie mit ansehen musste, wie dieser deportiert worden ist. Mónica kam mich später für mehrere Tage in Bremen besuchen und wir sind zusammen nach Ostfriesland gefahren, wo sie sich den Orten und den Details des Lagers gestellt hat. Sie hat uns ihre Familiengeschichte „da gelassen“, so hat sie es am Ende des Besuchs gesagt. In ihrem Fall waren das Zuhören und das Aushalten der damit verbundenen starken Gefühle auf eine Art erlösend.

 

Haben Sie auch Ablehnung oder Unverständnis erfahren?

Nein, nicht direkt. Ob hinter den Nichtbeantwortungen von vielen meiner Anfragen Unverständnis oder einfach eine falsche Fährte lag, lässt sich natürlich nicht sagen. Der Däne Hans erzählte, dass sein Bruder, dem ich den Brief geschrieben hatte, irritiert fragte, warum er sich noch mit diesem Thema befassen solle. Und dem 80-jährigen Ryszard rutschte bei meinem Besuch in Warschau der Verdacht raus, dass Deutschland mich schicke, um nun den Körper seines Vaters zu „beseitigen“, um Spuren des Verbrechens zu verwischen. Das hat mich schon schlucken lassen, da in diesem Moment der Abgrund polnisch-deutscher Geschichte deutlich zum Vorschein kam und ich von einem alten Polen, dem man als Kind seinen Vater entrissen hatte, als Vertreterin des Landes angesehen wurde, das dies zu verantworten hatte.

Teilweise wussten die Familien ja gar nicht, was mit ihren Verwandten passiert ist …

 

Wie fühlt es sich an, die Überbringerin so einer Botschaft zu sein?

Das war unheimlich. Ich habe es in beide Richtungen erlebt. Vier Familien wussten nicht, wo der (Groß)vater gestorben war. Eine wusste nicht einmal offiziell, dass er tot war. Und einer Familie habe ich das Wissen um den Bestattungsort ihres (Groß)vaters wieder genommen. Dort lag eine Namensverwechslung vor, die durch mein Zusenden der Todesurkunde erst aufgedeckt wurde. Das war der vermeintliche Vater des oben erwähnten alten Ryszards. Das hat mich erschüttert. Alle meine Recherchen über den Verbleib seines richtigen Vaters sind leider ergebnislos geblieben. Und bei den Familien, denen ich die Gewissheit und die Informationen brachte, wollte ich erst gar nicht glauben, dass ich wegen meines kleinen Projektes Nachrichten überbringe, die für die Familien so relevant sind. Ich dachte: Hätte diese Arbeit doch schon jemand vor Jahren gemacht! Die Informationen sind seit 1952 gesichert da! Eigentlich schon seit 1945. Vielen Familien wäre das jahrzehntelange bange Warten erspart geblieben. 

 

Geht die Recherche weiter?

Ja, ich werde weitermachen, aber in dem Maße, wie ich die Suche in den letzten drei Jahren verfolgt habe, werde ich das nicht tun können. Zeitlich, finanziell und auch kräftemäßig nicht. Es sei denn, ich lege andere Buchideen, die realisiert werden wollen, aufs Eis. Es gibt auch die Idee, die Suche auf mehrere Schultern zu verteilen, wir haben uns bereits in einer Arbeitsgruppe des Vereins dazu getroffen, bei der übrigens auch einer der betroffenen Familien aus den Niederlanden dabei war, die Familie van der Weij. Das hat mich sehr gefreut.


 

Imke Müller-Hellmann,

geboren 1975 in Aachen, aufgewachsen in Köln. Sie studierte Diplom-Religionswissenschaft und Diplom-Pädagogik und arbeitete als Studienreiseleiterin, Dozentin für Alphabetisierung und als Jobcoach für Menschen mit Behinderung. Ihre Kurzgeschichten wurden mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Imke Müller-Hellmann lebt und arbeitet in Bremen.


 

Müller-Hellmann